Frage: Frau Noll, Sie gelten als eine der erfolgreichsten Krimiautorinnen in Deutschland. Ihre Bücher wurden bislang in 21 Sprachen übersetzt, außerdem haben Sie mehrere renommierte Preise erhalten. Wie gehen Sie mit dieser Anerkennung um? Besteht bei all dem Erfolg nicht auch die Gefahr, die Bodenhaftung zu verlieren?
Ingrid Noll: Als ich mit 55 Jahren meinen ersten Roman schrieb, war ich bereits weitgehend geerdet; in diesem Alter ändert man sich nicht mehr wesentlich. Mir tun die jungen Superstars leid, die schon sehr früh ganz oben angekommen sind. Wenn es dann nicht kontinuierlich so weitergeht, fangen sie an zu saufen oder Drogen zu nehmen. Bei mir ist es so, dass ich jederzeit aufhören könnte, ohne deswegen depressiv zu werden. Aus Erfahrung weiß ich ja, dass ich auch ohne öffentlichen Erfolg kein unglücklicher Mensch bin. Die Bodenhaftung verliere ich sowieso nicht, dafür sorgen meine Mitmenschen, die mich nie für eine Diva hielten. Auch unsere Nachbarn sehen mich zum Beispiel frühmorgens im Nachthemd die Zeitung herausangeln, um elf im Supermarkt einkaufen und am Nachmittag Enkelkinder chauffieren.
Frage: Ihre Schriftstellerkarriere begann erst mit 55 Jahren, nachdem die Kinder aus dem Haus waren. Gleich Ihr 1. Buch im Jahr 1991, „Der Hahn ist tot“, war ein Beststeller - wie auch zahlreiche weitere Werke. Bedauern Sie heute nicht ein wenig, nicht schon früher mit dem hauptberuflichen Schreiben begonnen zu haben?
Ingrid Noll: Nun gut, wir hätten als junge Familie natürlich ein zusätzliches Einkommen brauchen können. Aber ich bezweifle, dass ich damals die nötige Lebenserfahrung hatte, um so zu schreiben wie mit Mitte 50. Außerdem bringt es gar nichts, wenn man vergangene Lebensphasen beklagt, denn man kann nicht immer alles gleichzeitig haben. Ich hätte es nicht geschafft, den Haushalt zu schmeißen, in der Praxis meines Mannes mitzuarbeiten, drei Kinder aufzuziehen, später meine alte Mutter zu betreuen, einen Garten zu pflegen, Haustiere zu versorgen, im Chor zu singen, mich im Elternbeirat zu engagieren etc und nebenbei noch Bücher zu schreiben. Außerdem hatte ich erst ein eigenes Zimmer und etwas Ruhe, als die Kinder aus dem Haus waren. Aber diese intensive Zeit trägt zu meiner Lebenserfahrung bei, die ich auf keinen Fall missen möchte und die ich einbringen kann.
Frage: Sie wurden einmal als die „nette alte Dame mit der Leiche im Keller“ bezeichnet, schließlich darf Mord in Ihren Werken nicht fehlen. Was reizt Sie so sehr, in Ihren Büchern in die menschliche Abgründe zu blicken - dazu noch, interessanterweise und von den Lesern besonders geschätzt, mit viel schwarzem Humor und Ironie?
Ingrid Noll: Das erste Buch war eher zufällig ein Kriminalroman, weil ich mir einbildete, das sei nicht allzu schwer für den Anfang (ein Irrtum). Aber dann habe ich Blut geleckt, und es macht mir immer noch Spaß, einen unliebsamen Zeitgenossen rein verbal um die Ecke zu bringen. Jedem ist schon mal in großer Wut der Gedanke durch den Kopf geschossen: Diesen Kotzbrocken könnte ich glatt erwürgen! Aber fast alle lassen es bei diesem blitzschnellen Anfall bewenden. Im Roman kann man sich dagegen austoben... Allerdings morde ich vergleichsweise nicht mehr gar so unverdrossen wie in den ersten Büchern, weil mich mein hohes Alter etwas milder werden lässt.
Frage: Dieter Hildebrandt sieht in Ihren Büchern „Familiengeschichten mit einem Schuss Grusel, Stories über eine Gemütlichkeit, die immerzu aufhört“. Man müsste eigentlich meinen, dass Sie als Mutter dreier Kinder eher dem familiären Idyll als Mord zugeneigt sind?
Ingrid Noll: Das eine schließt das andere nicht aus. Familien sind zwar einerseits ein Hort der Geborgenheit, andererseits aber eine Brutstätte für Neurosen und keine heile Welt. Wenn ich zu hören bekomme, dass es in einer Familie nie Streit gibt, alle harmonisch und liebevoll miteinander umgehen, die Kinder nicht zicken und motzen, sondern mit ausgezeichneten Zeugnissen eine solide Karriere anstreben, wenn Partnerschaften ohne Krisen glücklich bis ins hohe Alter bleiben und so weiter – dann glaube ich kein Wort.
Frage: Psychologische Kriminalromane sind Ihr Markenzeichen, nicht das Ausbreiten von Grausamkeiten. Im Mittelpunkt Ihrer Bücher stehen Frauen von nebenan, die zu Täterinnen werden, zumeist verletzte Seelen, ausgestattet mit Neurosen. Ist der Vergleich mit der großen US-Krimiautorin Patricia Highsmith, der oftmals herangezogen wird, eher belastend oder doch auch anspornend für Ihre Arbeit?
Ingrid Noll: Der Vergleich ehrt mich natürlich, aber wie alle Vergleiche hinkt er an allen Ecken und Enden. Nicht zuletzt, weil wir völlig unterschiedliche Perspektiven haben – Patricia lebte ohne Anhang mit ihrer Katze im Tessin, ich mit einer großen Familie und viel Trubel. Trotzdem haben wir einige Gemeinsamkeiten, wir verurteilen nicht, sondern beobachten mit Empathie.
Frage: Wie entwickelt sich überhaupt ein neuer Charakter für das nächste Buch, wie entstehen zumeist die Grundideen für Ihre Hauptdarstellerinnen?
Ingrid Noll: Durch eine längere Schwangerschaft. Es müssen ja schwierige Menschen sein, die Konflikte vielleicht lange unter den Teppich gekehrt haben, deren Sehnsüchte und Träume nie erfüllt wurden und die plötzlich mit aller Kraft doch noch ein Zipfelchen Glück ergattern möchten.
Frage: Ihr neuestes Werk „Über Bord“, das Sie am 1. Oktober in Schweinfurt präsentieren werden, erzählt von einer geschiedenen, von Geldsorgen geplagten Mutter, die plötzlich die große Liebe vor Augen hat - und schlussendlich zur Täterin wird. Was unterscheidet dieses Buch vor allem von früheren Krimis?
Ingrid Noll: Ich hoffe doch, dass meine Protagonistinnen sich alle unterscheiden, denn ich will ja nicht immer das gleiche Buch schreiben. Ellen, die Hauptperson im neuen Roman, wünscht sich einen Partner, sie ist einsam und man kann ihren Wunsch nachvollziehen. Sie hätte einen Mord zwar niemals langfristig geplant, aber im Affekt ist sie doch dazu imstande. Vielleicht wären wir das ja alle, wenn sich günstige Gelegenheiten rein zufällig ergeben?
Frage: Beschäftigte gehen heutzutage mit 67 Jahren in Rente. Wenige Tage vor der Lesung in Schweinfurt, am 29. September, werden Sie 77 Jahre alt. Gibt es für Schriftsteller eigentlich so etwas wie einen Ruhestand, können Sie sich so etwas vorstellen oder haben Sie bereits heute Inspirationen für weitere Krimigeschichten, die Sie gerne noch schreiben möchten?
Ingrid Noll: Zum Glück müssen Schriftsteller nicht mit dem Gongschlag aufhören, abgesehen davon ist das Schreiben für mich alles andere als eine lästige Pflicht. Bis jetzt habe ich noch viele Ideen, die ich verwirklichen möchte. Doch das kann sich natürlich ändern, der Kopf könnte nicht mehr zuverlässig funktionieren, Krankheiten und Behinderungen können auftreten, selbst der Tod kann plötzlich anklopfen. Hoffentlich wird mich mein Mann diskret darauf hinweisen, wenn ich nicht mehr richtig ticke. Aber bis es soweit ist und so lange ich noch Freude am Schreiben habe, will ich noch nicht das Messer abgeben. Und ich möchte auf jeden Fall gern dabei sein, wenn meine vier Enkelkinder (die Jüngste ist zwei, die beiden Cousins sind 6, die Älteste ist 12) ihren Schulabschluss feiern. Denn die mordende alte Dame ist eine leidenschaftliche Großmutter.
Vielen Dank für das Gespräch!
(Das Interview führte Stefan Pfister / Pressebüro Pfister Schweinfurt)
Weitere Informationen zur Lesung:
Karten gibt es ab sofort in der Stadtbücherei Schweinfurt im Ebracher Hof in der Brückenstraße 29 für 12 € im Vorverkauf und 15 € an der Abendkasse. Inhaber einer Stadtbücherei-Leihkarte bekommen 1 € Rabatt. Für Schüler und Studenten gilt der ermäßigte Preis von 5 €. Telefonische Kartenbestellungen sind unter der Telefonnummer 09721/51-7960 möglich.
Die Lesung mit Ingrid Noll findet am Montag, 1. Oktober 2012, um 19.30 Uhr in der Rathausdiele im Rathaus der Stadt Schweinfurt statt.
Bildbeschreibung (von oben):
1./2.) Ingrid Noll, © Regine Mosimann - Diogenes Verlag
3.) Titelseite/Cover des neuen Buches "Über Bord" von Ingrid Noll, © Diogenes Verlag
4.) Rathaus der Stadt Schweinfurt, Ort der Lesung am 1.10.2012 mit Ingrid Noll, © Fotos: Stefan Pfister
5.) Stadtbücherei im Ebracher Hof, Brückenstraße 29, © Stefan Pfister